Faksimile von Jakob Senns Brief an Gottfried Keller
Hochgeehrter Herr,
Ich erlaubte mir vor zwei Monaten, Ihnen die Hälfte eines grösseren Manuskriptes zur gütigen Durchsicht und Beurtheilung zu übermitteln. Wie ich indess recht gut wissen musste, konnte solches nicht das Werk einiger flüchtiger Stunden sein und da mir zugleich denkbar war, dass Sie fortwährend durch viel anderes und Wichtigeres in Anspruch genommen würden, so hätte ich Sie schon billigkeitshalber mit meiner Zumuthung nicht behelligen sollen. Allein - wie ich Ihnen bereits mündlich verdeutet - ich kenne so gar niemanden, zu dem ich auch nur entfernt das Vertrauen haben könnte, das mich für Sie erfüllt, darum wagte ich es, ohne ängstliche Rücksicht auf jene weiteren Anforderungen an Ihre Thätigkeit, mich doch nur an Sie zu wenden, getragen von einer gewissen Zuversicht, dass Sie all das wenigstens nicht zürnend interpretieren würden.
Hochgeehrter Herr, es liegt mir sehr viel an der fraglichen Arbeit, da ich die besten Stunden einer langen Zeit darauf verwendet und auch das relativ Beste darin geleistet zu haben glaube, was mir je möglich war und vielleicht je möglich sein dürfte. Wie schon die autobiographische Form vermuthen lassen wird, enthält die Arbeit vorwiegend, ja wenn man will ausschliesslich, Selbsterlebtes. Liess ich mir nun sicherlich nicht beifallen, meine Erlebnisse für so ausserordentlich wichtig zu halten, dass sie an sich einer solchen Schilderung würdig wären, so dürfte ich doch voraussetzen, dass sie bei einigermassen gelungener Darstellung immerhin so interessant gefunden werden dürften, wie manche andere Erzeugnisse der belletristischen, vorzüglich der Dorfgeschichte verwandten Tagesliteratur. Sämtliche Daten sind in ihren Hauptzügen durchaus wahr, und wann es immer ebenso unterhaltend als belehrend erschien, das Ringen eines lediglich auf seine eigene Thätigkeit angewiesenen, nach einem höheren oder ferneren Ziele Strebenden mit seinen Erfolgen und Erfolglosigkeiten zu beobachten, zumal wenn letztere nicht durchweg und bis ans Ende die Oberhand behaupteten, so darf ich hoffen, dass meine Arbeit ihre Freunde finden werde. Ich bin Autodidakt im strengsten Sinne des Wortes, und ich ward es natürlich nicht etwa aus Originalitätssucht, sondern aus Mittellosigkeit; dass daher meine Bildungswege jedenfalls keine Blumenpfade waren, lässt sich denken. Das Nähere hierüber sagt Ihnen meine Arbeit (Kap. 4 und 6 etc.)
Hochgeehrter Herr, meine ergebene Bitte geht nun dahin, Sie möchten, falls Sie durch Lesung des ganzen Manuskriptes gar zu lange hingehalten werden sollten, gütigst nur einzelne Kapitel oder Episoden einer näheren Durchsicht würdigen. Ich habe wissentlich keine Zeile flüchtiger als die andere bearbeitet, sodass Sie sich mit gutem Gewissen des Einzelnen als Massstab für das Ganze bedienen dürfen. Da der Inhalt durchweg ein gegebener und bloss zu wählen war, so war es mir umso eher möglich, der Darstellung alle Sorgfalt zuzuwenden, und ich that es mit dem klaren Bewusstsein, dass dieselbe nichts weniger als Nebensache sei. Und dass ich in dieser Hinsicht wenigstens nicht mehr ganz im Finstern tap[p]e, mag ein Urtheil Dr. Toblers in Bern beweisen, der mir vor anderthalb Jahren über eine kleine Arbeit schrieb: «Der Styl ist fliessend, die Darstellung untadelhaft.» Ganz ähnlich urtheilten über andere meiner Arbeiten Dr. Jakob Frei und Dr. Mühly in Basel. - Schliesslich, auf den Fall hin, dass Sie meine Arbeit hinlänglich gelungen fänden, möchte ich Sie noch einmal so dringend bitten, mir behülflich sein zu wollen, einen Verleger für dieselbe zu gewinnen.
Zürich, 28.7.63
Hochachtungsvoll ergeben
Jakob Senn
im Schlössli Lindenhof